Corona sei Dank


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Zeitlos und etwas übergewichtig hocke ich mit entspanntem Rücken auf dem froschgrünen Pezziball, dem allmählich die Luft ausgeht. Meine Pobacken, warm gepolstert, wiegen von Seite zu Seite. Der Arzt sagt, ich brauche Bewegung. Die Pogymnastik hält sich in Grenzen. Bewegen will ich mich nicht, ich will meine Ruhe. Ruhig träume ich aus dem Küchenfenster hinaus auf die Straße. Auch auf der Straße kaum Bewegung, selten ein Auto, nur vereinzelt ein Mensch, auch mal ein Paar. Die Paare halten sich nicht wie sonst an den Händen, sie gehen einzeln verloren, hintereinander her. Ab und zu ein Kind, das sich erregt. Über den Ball, der mit Punkten über die Straße rollt. Das Kind läuft lustvoll hinterher. Niemand hält das Kind auf, noch nicht einmal ein Auto. So ganz ohne Lärm, bis auf die Rufe des Kindes, wirkt das Viertel beinahe unwirklich menschlich. Die hohe Platane, die sich in einem Wind wiegt, der kaum noch weht, bewegt sich anmutiger als ich. Das Eichhörnchen, das ungestört an ihrem Stamm hoch flitzt, auch. Von Ast zu Ast hangelt es sich, schwingt sich auf einen laublosen Zweig, der auf das Fenster weist vor meinem Gesicht, blinzelt mich mitfühlend an, als wolle es Wärme und Nähe erzeugen. Ich blinzele zurück. Zu sagen weiß ich nichts. Meine Hand fühlt sich versucht zu winken, sie überlegt es sich anders, fällt träge zurück in meinen Schoß. Statt dessen dehnen sich meine Mundwinkel aus, wenigstens sie sind in Bewegung. Und mein Magen. Er grummelt und verspürt einen Hunger oder eine Weite, die er vergessen hatte. Er war es gewohnt, dass ich jede Ahnung von Freiheit und Leere schnell stopfte mit etwas, das sofort greifbar war. Meistens mit Schokolade. Nougat. Oder Krokant. Und Müsli mit viel Honig und Trockenfrüchten, zur Beruhigung meines schlechten Gewissens, auch mal einen Salat oder eine Suppe mit Gemüse und Sahne.

Seit Tagen bin ich in meinen drei Zimmern, die ich allein bewohne, eingesperrt. Seit sechs oder sechzehn oder mehr?

Ich zähle die Zeit nicht. Endlich nicht mehr. Die treibende Zeit kann mich mal, besonders der Wecker. Beide zusammen sind eine Pest. Gefrässige Viren. Stresserzeugend, hinterhältig, lebensgefährdend. Wann immer mir danach ist, ruhe ich mich aus oder schlafe, mir ist meistens danach. Ganz am Anfang fiel mir das Schlafen noch schwer, die Ruhe auch. Beide war mein ferngesteuerter Geist nicht gewohnt. Ich konditionierte mich um. Beatmete Bauch, Herz und Visionen. Entspannte. Zum ersten Mal seit Jahren. Ich schlief. Tief und ungestört. Beinahe fröhlich. Erstaunlich, was so ein bisschen Einfluss und mentales Training bewirken können. Sogar essen muss ich kaum noch. Keinerlei Stress, der einen imaginären Hunger erzeugt. Nur ein langgezogenes Einerlei. Man könnte es Güte, Gelassenheit oder einen kleinen Frieden nennen. Die langen Pausen zwischen bescheidenen Mahlen, bestehend aus Reis oder Hirse, getrockneten Kräutern, ein paar Kartoffeln, die Augen schneide ich aus, Gemüsebrühe aus dem Glas, ersparen mir die nervösen Toilettengänge meines Magen-Darm-Reiz-Syndroms. Es ist fast verschwunden. Das restliche Papier wende ich sparsam an, Wasser habe ich noch, zur Not nehme ich das und meine Hand.

Zwar bin ich eingesperrt, doch macht mir das nicht so viel aus. Denn eingesperrt bewege ich mich schon lange durchs Leben. Eingeschlossen in meinen Körper, in mein wachsendes Fleisch, in meine Routinen und Gedanken, in meine Zwänge und in die Zwangsstörungen der Wirtschaft und der Behörden, in meine Träume, denen ich nicht mehr traute, die ich aufgehört hatte, ernst zu nehmen oder gar zu verfolgen.

Jetzt ist die Einsperrung immerhin offiziell. Sie steht in der Zeitung, im Netz, in allen sozialen Medien, sie überschreibt den gesamten Planeten. Ich darf mich jetzt offen wie eine Gefangene gebärden. Ich muss nichts mehr tun, nichts, was ich nicht will. Weder das Handy anschalten muss ich, noch ein anderes Gerät, die Zeitung muss ich nicht lesen, sie kommt erst gar nicht, das Telefon muss ich nicht bedienen, keine Rechnungen schreiben, und wenn kein Geld rein kommt durch zeitschindende Arbeit, kann ich auch nichts bezahlen. Weder kleines Geschwätz muss ich halten, um die Nachbarn und Kollegen bei Laune zu halten, noch muss ich überhaupt ein Wort sagen. Bis heute verstand ich den Begriff Freiheit nicht, ich beginne, ihren Inhalt und Sinn zu erahnen. Meine Mundwinkel zucken schon wieder, als bahnte sich durch sie ein lange vermisstes authentisches Lachen seinen Weg aus zugefrorenen Katakomben an ein weiches luftiges Licht.

Eines Morgens vor sechs oder sechzehn Tagen, vor Ewigkeiten jedenfalls, kündigte ein behördliches, unmißverständliches Klopfen den großen Umbruch an. Ich öffnete eingeschüchtert und nur einen Spalt meine knarrende Wohnungstür, zwischen deren Ritzen bisher immer Staub eindrang. Jetzt drängelte sich mit Maske und Schutzanzug ein amtliches Geschöpf durch den Spalt. Die Gestalt, Mann oder Frau, nicht eindeutig, vielleicht ein neumodisches Dingsda, vielleicht auch einfach ein Sklave, hob gebieterisch eine gepanzerte Hand.

Bleiben Sie, wo Sie sind, bleiben Sie dort, so lange wir es verordnen. Wir schweißen Sie ein. Als Zeichen unserer Fürsorge, hier noch eine Rolle Klopapier und ein Kilo Reis, keine Ahnung, ob der aus China kommt, verschwenden Sie nichts und beschweren Sie sich nicht.

Das konturlose Wesen quetschte neutrale Höflichkeit in ihre oder seine Stimme und Reis und Papier durch den Spalt in der Tür. Beides fiel dahinter knirschend zu Boden. Ich ließ es dort liegen, nahm mich zusammen, besänftigte so gut es ging den Aufstand in meinem Kopf, der mich schon immer im Angesicht von kurzsichtigen Ausführungsorganen überfällt. Ich sammelte mich und mein Übergewicht, das ich noch nicht so lange mit mir schleppe, erst, seitdem die Menge dessen, was ich selbst bestimmen darf, abgenommen hat, und stellte die Frage, die mir seit Wochen den Magen beschwerte: Wer hat was von der globalen Psychose? Wird sie in das WHO-Register hysterischer Diagnosen aufgenommen?

Das ausführende Organ, das weder Frau war noch Mann, jedenfalls nicht identifizierbar, vielleicht noch nicht mal mehr Mensch, zuckte unter der Maske zusammen. Äh, die Vereinzelung, äh, ich meine die Abriegelung, dient nur der weiteren Entmachtung, äh, sorry, der Menschheit Schutz. Kommunizieren können Sie, wie gewohnt, über den Äther. Wenigstens, solange er das alles überlebt. Und fragen Sie mich nichts weiter, ich weiß nichts, mögliche Antworten obliegen nicht meinem Arbeitsgebiet. Ich bin nur die ausführende Hand.

Als Bestätigung oder Drohung erhob sich noch einmal die rechte gut gerüstete Hand.

Weder das amtliche Toilettenpapier noch staatlichen Reis fragwürdiger Herkunft habe ich bisher benutzt. Ich hatte mich vor dem Eklat selbstständig versorgt. Nicht aus Angst, oder so, so leicht infizierbar bin ich nicht. Hamsterkaufen habe ich schon viel früher von meiner Mutter gelernt. Sie selbst hat ihr Gebaren vom Krieg übernommen.

Natürlich könnte ich Amok laufen, die Fenster einschlagen, schon früh am Morgen ins Telefon brüllen und mich beklagen, ich könnte das Dope meines Lovers aufbrauchen, der seit langem obdachlos ist, dort, wo ihn niemand einsperren kann. Nachts könnte ich mich mit erlesenem Wein betrinken, der wegen meiner Sammelleidenschaft sein persönliches Regal belegt. Doch wozu soll ich meine restliche Energie für einen Widerstand verschwenden, der sich dann, getarnt als Krebs, in meine Organe frisst. Nein, ich habe gelernt, mit mir selbst auszukommen. Jedenfalls, nachdem ich erst die gesamte Wohnung geschrubbt und desinfiziert und von jeder Last und gesammeltem Müll entsorgt, alle verbliebenen Serien, jeden vorhandenen Thriller verschlungen hatte. Frei von atemloser Betriebsamkeit, verengten sich verblüfft meine Lungen mit ernsthaften Symptomen von Atemnot und Beklemmung, weiteten sich dann überraschend und pumpten sich dankbar auf mit dem ganz kostenlosen Heilmittel von den-Tag-genießen-und-einfach-wach-leben. Seitdem feiere ich die geschenkte Zeit.

Hast du keine Angst?

Meine Freundin Annabel fragt mich. Wie immer tauschen wir uns telefonisch einmal in der Woche aus. Wir sehen uns selten, einmal im Jahr. Sie ist zu beschäftigt, um unsere Freundschaft zu pflegen. Das war ich auch.

Angst, wovor?

Ich streichele mein Übergewicht am Bauch. Während der eingesperrten Zeit ist es weniger geworden und kostet meine zärtliche Zuwendung aus.

Na ja, Angst vor der Existenz. Dass sie dich nicht mehr ernährt, wenn das noch lange so weiter geht.

Was für eine Existenz? Die gibt es nicht mehr, wenn jeder Mensch vom anderen Menschen abgeschnitten ist, so wie von sich selbst, in seinem mediengepanschten Paniksaft gärt, Hände nicht geben und nehmen darf, bewusst und differenziert nicht denken soll, mumifiziert und traumatisiert seinen Hund zum Pinkeln rasch in die Notecke führt, restliche Notrationen grabscht, die Augen senkt, wenn ihm ein Nachbar begegnet, als trüge der Nachbar ein tödliches Schwert.

Früher als üblich beende ich das Gespräch, nachdem ich Annabel einen gesegneten Kuss, ganz ohne Erreger, dafür mit Vertrauen in Weisheit und Menschliches im Menschen auf Wangen und Mund gedrückt habe. Die Zeit, mich Retorten-Ängsten auszuliefern, schenke ich niemand, dafür bin ich mir viel zu lieb geworden. Seitdem ich nicht jeden Morgen bis zum Abend halb blind und taub und wie besoffen durch das kapitalaktionistische Dickicht torkele, achte ich wieder auf mich. Und auf die Anderen.

Zunächst einmal lade ich sie ein, meine Angst. Die schon von jeher bei mir ist. Nur habe ich sie bisher abgeschoben, statt dessen den inneren Kampf gegen vermeintliche Feinde, Fremdes und Symptome nach Außen verschoben. Ich begrüße sie beinahe herzlich, meine Angst, ich setze mich zu ihr, nehme mir Zeit für sie wie für mein Kind. Ich höre ihr zu. Ich schaue sie an. Ich rede mit ihr, will alles von ihr wissen. So achtsam behandelt wie eine kostbare Freundin, wird meine Angst weich. Ganz unbedroht erzählt sie von sich. Von ihrer Furcht, ausgeliefert, hilflos, ungeliebt und ganz allein zu sein. Sie zeigt mir, wie sie sich schämt, für ihre Andersartigkeit und ihre Zerbrechlichkeit. Meine Angst, so sorgsam beachtet von mir, löst ihre Form auf und verwandelt sich. Federleicht,  mit einem liebenden Kosmos verwoben, dehnt sie sich aus, meine Angst, hinein in meinen Bauch, in meine Brust, offenbart mir ihre unendliche Lust, jede verwahrloste Zelle zu öffnen und voll und ganz, ohne Beschränkung, an wahrhaftigem Leben teilzuhaben.

Ich lausche und schaue weiter. Forsche nach mir. Jede einzelne Kurve begrüße ich, jedes verwaiste Gefühl und Verlangen, jede Repressalie, jeden Schatten, alles, das ich in Kammern von Herz und Lungen, von Leber und Nieren, von Darm und Hirn gehortet und übergangen hatte. Ich atme auf, öffne verklebtes Gewebe, Luken und Tore, liebkose Flügel und Wurzeln und Sinne, die schon halb am Vergammeln waren. Meinen Atem hauche ich in meine Hände, meine Hände bergen wie ein heilsamer Kranz mein Gesicht.

In den letzten sechs oder sechzehn Tagen, vielleicht schon viel länger, lerne ich, selbst zu bestimmen, wem oder was ich mich ergebe. Weil ich mich lieb gewinne, etwas, das vor sechs oder sechzehn Tagen, seit ewigen Zeiten, nicht denkbar war, höre ich jeden Morgen als erstes und am allerliebsten auf mich. Das Auf-Mich-Hören wiederhole ich jede gefühlte Stunde, um nicht wieder, vielleicht nie mehr, der Lakaienschaft globaler Urteile und Magnate, Gedankenkontrollen und sozialer Fassaden zu verfallen. Mir mit Mitgefühl und Zartheit zu begegnen erfordert Zeit und Aufmerksamkeit. Den Mut, mich auszuhalten. Mit jeder Wunde, jedem Makel, jedem schrägen Impuls. Jeden Pups, alle Pickel, frivole Bilder, verwegene Gedanken, vergangene Taten, den verworrenen Dschungel der chaotischen und lieblosen Gesellschaft, die dort draußen sowie in meinen eigenen Hohlräumen herrscht, betrachte ich. Staunend, beinahe glückselig, sehe ich meinen inneren Kindern zu, wie sie frohlockend aus meinen und kollektiven Kerkern stürmen, um Leben selbstbestimmt und furchtlos zu erobern. Das alles bin ich. Eine frisch geküsste Seele.

Ich bin auch der Virus, die Trennung und Isolation, der Zorn und der Haß, ich bin die beschränkte Politikerin, die pharmazeutische Ausbeuterin, der Idiot, der gierige Banker oder Chinese, der totale Staat, bin der globale Crash. Ich bin der Schmerz. Ich breche zusammen. Das alles bin ich.

Und ich bin viel mehr. Ich lasse los und besinne mich auf den Kranz einer haltgebenden Sonne in mir. Meine innere fruchtbare Erde. Während ich mir die Ehre erweise, mir näher zu rücken und ehrlich zu werden, atme ich endlich wieder saubere Luft. Ich öffne selbstständig ein Fenster, sehe fremde Augen, die aus anderen Fenstern neugierig und leise und irgendwie wacher in meine Richtung blicken, höre Münder, die sich öffnen und zaghaft summen, höre, wie das Summen sich heiter steigert, als seien Bienen und Hummeln und andere verlorene Wesen zurück. Lieder und Sinfonien rauschen von Fenster zu Fenster, rhythmisch, ganz ohne Form oder Noten, streicheln die Kronen der Bäume, wärmen Mauern, die fallen.

Der Himmel wird sichtbar, weint vor Freude. Die offenen Gesichter der Menschen sind wie Kätzchen und weich. Kein Radau, keine Zeit, die uns bedrängt und uns nötigt, Münder und Augen und Fenster wieder dicht zu verschließen und uns dem Wahn gelenkter Ablenkung von unseren sich sehnenden Seelen wieder zu opfern. Unser Gesang hängt über den Wipfeln aufatmender Bäume, strömt durch porösen Asphalt, durch rissige Steine in unseren Häusern, durch wehmütige Zellen, gehypte Viren, durch alle anderen Gefahren in jeden Mundwinkel, flutet die Samen in unseren Därmen, die Gefahr liefen, in programmatischer Apartheid und Apathie zu verdorren und jetzt in fragiler Herzform beginnen zu sprießen.

Ein Jubel reißt meine Einfrierung auf, meine innere Absperrung, übergewichtige Barrieren, künstlich gezüchtete Angst, jede Identifikation. Ich lüfte alle Räume, reiße Isolationsband und Schweiß aus der Tür, lüfte mein Herz aus, reiße es auf, leicht wie eine Feder fliegt es auf die Straße, ich auch. Ich reiche und fasse Hände, umarme Luft und Kinder, Alte, Junge, Frauen und Männer, Amerikaner, Deutsche und Chinesen, sie können nichts für partielle Umnachtung. In den sechs oder sechzehn Tagen oder ewigen Zeiten, sind meine Augen heiler geworden, haben sich von Geschwülsten des Misstrauens, von dem Krieg im Außen und Innen, von angstverfärbten Reaktionen gelöst. Ich empfange ein Prickeln wie ein Vertrauen, aus den Brüsten von Frau Merkel – oder einer anderen Beamtin – mein Herz bewahrt es, erkennt die Sehnsucht, die wir teilen, nicht länger die künstlich geschürte Panik vor dem Anderen, dem Bösen.

Mitgefühl für uns und für hilflose Erreger und Agitatoren durchspült mich. Ein Dank sprudelt aus meinem Magen über meine Lippen für Corona, das Krönchen, für die zwangsgesperrte erhellende Zeit. Sie hat uns wachgerüttelt, unsere gemeinsame Kraft genährt und selbstständig sehen gelehrt:

Apokalypse einer wahrhaftigen und tiefen Verbundenheit – eines frei-natürlich-miteinander-lebens.

 

 

Lelia Strysewske